„Ich weine oft und schreie still.“ Ich
schreibe diese Worte auf und blitzschnell bin ich in einem Sog, der
mich zurück in die Vergangenheit zieht. Wehrlos – gefangen.
Eiskalte, messerscharfe Tränen rinnen meine Wangen herab.
Unbeschreiblich, wie weh das tut. Ein nicht endend wollender
Wasserfall aus Blut und Tränen. Und das Wasser ist so kalt, dass
auch mein Herz gefriert und der Schmerz weniger wird. Jegliches Leben
wird konserviert, bis in alle Ewigkeit. Amen. Oder bis das Eis taut
und sichtbar wird, was in ihm so lange verborgen geschlummert hatte.
„Ich weine oft und schreie still.“ Mein
Schmerz ist so groß – so groß – er lässt sich nicht in Tönen
ausdrücken. Keine Lautstärke ist laut genug, ihm zu entsprechen.
Also bleibt er still - der Schrei.
Zum Glück habe und hatte ich das Schreiben. Schon
während Jürgen krank war und seit er gegangen ist zu einem Ort, zu dem
ich ihm jetzt nicht folgen will. Da konnte ich meine Traurigkeit
ausdrücken, meine Gefühle durften sich zu Buchstabenfolgen formen.
Ich habe geschrieben und geschrieben. Jeden Tag – manchmal viele
Stunden lang. Alles was mir in den Kopf kam. Einfach auf den Moment
geachtet und das aufgeschrieben. Emails, Tagebuch, selten in meinem
Blog. Und hinterher habe ich mein Tagebuch – ohne es nochmal zu
lesen, in einem Feuerritual verbrannt – zusammen mit den
Trauerkarten.
Loslassen war angesagt – auch meine Erinnerungen
gehen lassen – vielleicht sogar meine Worte sterben lassen?
Gestern wurde mir durch einen Satz von Anna - der
Leiterin des Schreibretreats - klar: „Wenn ich meine Geschichte
loslasse, dann ist sie irgendwo noch da, wabert herum in einem
luftleeren unbekannten Raum. Wenn ich aber meine Geschichte sterben
lassen - dann ist sie weg, wirklich und ganz weg.“ Ja, das will
ich, meine Tränen und meine Trauer sollen sterben. Ich schreie laut
hier. Ich bin dabei. Doch sogleich kommen Zweifel auf: kann ich das
überhaupt, meine Geschichte sterben lassen? Will ich das wirklich
mit aller Konsequenz? Mir ist nicht klar, was das bedeutet und noch
weniger weiß ich, was ich dazu tun muss. Also werde ich wieder leise
und halte mir den Mund zu, damit das Leben mich nicht hört. Mich in
Ruhe lässt.
Eins ist sicher: meine Liebe zu Jürgen wird
niemals sterben, sie wird ewig bleiben und ewig leben. In meinem
Herzen wird er immer bei mir sein. Ja, denn Liebe ist das einzige was
ist und das einzige, was bleibt.
Ich weine immer noch oft und schreie immer noch
still. Beim Autofahren oder Spazierengehen mit meinem Hund, immer
nur, wenn ich alleine bin. Ich weine fast täglich, obwohl ich
inzwischen einen neuen Liebsten habe, mit dem ich Zärtlichkeit und
Lust erfahre, die ich bisher nicht kannte. Eine Liebe, die mir
Dimensionen des Lebens eröffnet, die sich vorher versteckt hatten,
ich niemals für möglich gehalten habe. Ich bin sehr glücklich mit
meinem neuen Liebsten. Er ist wundervoll. Und trotz alledem - der
Schmerz ist noch da - auch nach fast zwei Jahren. Ist es wirklich
schon so lange her? Wie schnell die Zeit vergeht.
Apropos Zeit - heute habe ich gehört: Sterben
heißt, das Zeitliche segnen. Ja, Jürgen hat das Zeitliche gesegnet.
Jürgen hat die Kinder und mich in seinem Sterben gesegnet. Es war
die schönste und furchtbarste Erfahrung meines Lebens. Beglückend
und schmerzhaft zugleich. Sterben ist wie Gebären. Das letzte und
das erste, das ein Mensch seinen geliebten Mitmenschen schenkt, ist
etwas ganz großes. Ein gehüteter Schatz.
Und die zwei Worte „Schreien und Weinen“ haben
ein Tor geöffnet zu einer Welt, die ganz tief in mir verborgen ist,
die ich selten – eigentlich nie mit jemandem teile. Es ist mein
Schmerz, er gehört nur mir. Und irgendwie hänge ich auch an ihm.
Wer weiß, vielleicht verschwindet ja die Liebe, wenn ich den Schmerz
sterben lasse? Wie kann ich sicher sein, dass sie ewig bleibt? Gibt
es das überhaupt – Ewigkeit?
Meine Hand zittert und ich kann kaum noch
schreiben. Vorlesen, was ich geschrieben habe? Ich glaube, das
schaffe ich nicht. Hoffentlich werde ich vor der Gruppe nicht
zusammenbrechen? Andere an meinem Schmerz teilhaben lassen? Ich
glaube, das will ich nicht. Noch nicht mal meinen neuen Liebsten
möchte ich in diesem Raum dabei haben, wenn ich in ihn eintauche.
Und doch habe ich es getan, habe allen Mut
zusammen genommen und die erste Rohfassung in der Gruppe vorgelesen.
Später werde ich den Text meinem Liebsten schicken und vielleicht
auf meinem Blog veröffentlichen. Mal sehen... erst mal drüber
schlafen und ihn dann noch ein paar mal überarbeiten.
Das Leben wagen? Das war heute auch Thema. Ich
fand es erst blöd. Denn das Leben birgt kein Risiko, ist kein
Wagnis. Aber je tiefer ich diesen Gedanken zulasse, um so mehr wird
mir klar, wieviel es gibt, was ich mich nicht traue, was ich nicht
wage. Auch wenn ich stolz darauf bin, sehr mutig und stark
aufzutreten und überzeugt bin, kein Risiko zu scheuen, muss ich
zugeben, so toll, wie ich meine, bin ich gar nicht. Ich mache mir
selbst etwas vor.
Vielleicht heißt das Leben wagen für mich auch,
es zu wagen, meinen Schmerz zu teilen? Zu wagen, den Schrei laut
werden zu lassen, so dass jeder weiß, wie sehr ich Jürgen geliebt
habe. Vielleicht heißt das auch, meine Tränen anderen zu zeigen,
mich nicht mehr zu verstecken in meinem Schmerz. Bis mein Herz
auftaut und alles wieder zu fließen und zu heilen beginnt?
Die Tränen rinnen meine Wangen herunter und mein
Schrei ist immer noch still. Ich weine und entscheide mich: ich will
meine Trauer und meine Tränen jetzt auskosten, tief in sie
eintauchen und das Wagnis eingehen, meine Verletzlichkeit und meinen
Schmerz zu zeigen – ihn zu verlauten. Ob das der erste Schritt ist,
um meine Geschichte sterben zu lassen? Wir werden sehen.
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